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Parforceritt durch 106 Jahre Hennigsdorfer Industriegeschichte

Werk Hennigsdorf (Foto: Strunk)

Dargestellt werden im Rahmen eines weiteren Themenabends zur Industriekultur die vielschichtigen Zusammenhänge bei der Entwicklung des Industriestandortes Hennigsdorf besonders im Hinblick auf mehr als 100 Jahre Lokomotivbau aus technischer, ökonomischer und politischer Sicht. Mit interessanten Hintergrundinformationen und Bildmaterial zur Produktion von Dampf-, Diesel- und insbesondere Eloks sowie auch anderer Fertigungsbereiche in Hennigsdorf werden die Herausforderungen thematisiert, die der Wandel des Standtortes mit sich brachte.

Wandelnde technische, ökonomische und politische Bedingungen beim Lokomotivbau in Hennigsdorf bei Berlin

In seinem Vortrag auf dem 14. Industriekulturabend „Von der AEG zu Bombardier“ am 18. März 2016 im Potsdamer Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte nimmt Dr. Peter Strunk, Bereichsleiter Kommunikation der WISTA-MANAGEMENT GMBH die Gäste des Abends mit auf einen Parforce-Ritt durch 106 Jahre Hennigsdorfer Industriegeschichte. Er beginnt im Jahr 1888/89, als sich die “Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft” mit der weltbekannten Abkürzung AEG der „Construction elektrischer Bahnen“ zuwendet. Das Unternehmen produziert elektrische Bauteile für Schienenfahrzeuge, hauptsächlich für Gruben, Werk- und Straßenbahnen. Vier Jahre nach der Gründung der Bahnabteilung wird Neues gewagt: Man setzt auf Wechselstrom, weil dies beim Transport gegenüber Gleichstrom weniger Verluste erleidet. Bis 1891 ließ sich Wechselstrom nicht über lange Strecken übertragen. Die AEG schafft es und baut 1891 die erste Ãœberlandleitung, der Beginn der Elektrifizierung Deutschlands. Niederfrequenz-Elektrostrom ist die Lösung.

Peter Strunk

Peter Strunk (Foto: BBWA)

1910 kauft die AEG ein 770 000 Quadratmeter großes Gelände in Hennigsdorf bei Berlin zur Errichtung einer Porzellanfabrik. 1911 wird der Grundstein für eine Porzellanfabrik, Öltuch- und Lackfabrik sowie Heizapparatefabrik gelegt. 1913 beginnt die Lokomotivfertigung in Hennigsdorf. Emil Rathenau, dem die Gesellschaft ihre Entstehung verdankt, konzentriert alle seine Geschäftsaktivitäten rund um Berlin – Strunks Ansicht nach, um alles in der Nähe unter Kontrolle zu haben. So erweist sich Hennigsdorf mit seinen Standortvorteilen in der Nähe der Havelwasserstraße als ideal für die Erfüllung des ersten Auftrages über 27 elektrische Lokomotiven. Von hier an widmet sich die AEG an mit vielen neuen Technologien und Innovationen dem elektrischen Lokomotivbau – unterbrochen durch den ersten Weltkrieg, der die umfangreiche Produktionsumstellung auf Dampflokomotiven und deren Ausbesserung notwendig machte sowie der Beteiligung an dem Einheits-Dampflokbau im Jahre 1925 und der 1927 folgenden Entwicklung der ersten brauchbaren Kohlenstaubfeuerung für Dampflokomotiven.

Bei seinem Parforceritt macht Strunk immer wieder Abstecher zu anderen Fertigungsbereichen der AEG wie die Herstellung von Scheinwerfern, Fahrkartendruckern und Signalapparaten (1916), Flugzeugen (1919) sowie Isolatoren nach der Gründung der Rosenthal-Isolatoren GmbH (1920), Elektrobeheizungen (1922) und Kühlschränke (1936).

Zurückkommend zum Kerngeschäft erfahren die Gäste des Industriekulturabends, dass 1939 die 5000. von der AEG gebaute elektrische Lokomotive die Werkhallen in Hennigsdorf verlässt. Es ist eine Lok der Baureihe E 19, die auf eine Spitzengeschwindigkeit: 225 km/h ausgelegt ist, die sie jedoch nie gefahren ist, weil es keine Schnellfahrstrecken zur Verfügung standen.

Am Ende des 2. WK sind 80 Prozent der Hennigsdorfer Fabriken der AEG zerstört. 1946 werden sie von der sowjetischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und als sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) in das Eigentum der UdSSR übertragen. 1947 erfolgt die Rückgabe der Fabriken in deutsche treuhänderische Verwaltung und die anschließende Enteignung und Ãœberführung ins Volkseigentum. Die Fabriken erhalten die Bezeichnung “VEM Vereinigung Volkseigener Betriebe des Elektro-Maschinenbaues-Lokomotivbau Elektrotechnische Werke Hennigsdorf (Osthavelland)”. 1948 wird die Fertigung elektrischer Lokomotiven wiederaufgenommen. 1951 erfolgt die Umbenennung in “VEB Lokomotivbau-Elektrotechnische Werke ‘Hans Beimler'” (LEW).

Werksgelände Hennigsdorf (Foto: Strunk)

Werksgelände Hennigsdorf (Foto: Strunk)

1955 kommt der erste Auftrag aus dem Ausland (Polen). Bald exportiert die LEW fast 60 Prozent seiner Erzeugnisse ins Ausland. Ab 1964 erfolgt der Export von neuen Fahrzeugen nach Budapest, Dieselloks nach Brasilien und Straßenbahntriebwagen nach Ägypten. Das Fertigungsprogramm wird in den folgenden Jahren auf Straßenbahntriebwagen, Diesellokomotiven, Untertagelokomotiven, Zahnradloks, Erztransportwagen und Fahrkartendrucker erweitert. 1970 wird das Hennigsdorfer Werk Stammbetreib des “Kombinat VEB Lokomotivbau Elektromaschinenwerke ‘Hans Beimler'” (LEW).

Schon vor dem Fall der Mauer 1989/90 wird über eine Kooperation der AEG und LEW verhandelt. Sie entwickeln gemeinsam mit einem ostdeutschen Waggonhersteller zwölf dieselelektrische Intercity-Triebzüge für die Griechische Eisenbahn (OSE). 1992 übernimmt die AEG die LEW Schienefahrzeugsparte, die wiederum 1996 an ABB Daimler Benz geht. 1998 erfolgt die Übernahme der Werke durch Daimler Crysler. 2000 wird der Verkauf des Unternehmens Adtranz an Bombardier durch Daimler Chrysler wird vorbereitet und am 1.Mai 2001 ist       Adtranz verkauft an Bombardier, die Namensänderung im Handelsregister registriert.

Mit den Worten „Der neue Firmenname lautet: Bombardier Transportation GmbH“ und dem Hinweis, dass Hennigsdorf heute der größte Standort von Bombardier in Europa ist beendet Strunk seinen Vortrag.

Zeitzeugenvortrag zu den Transformationsprozessen von der LEW zur AEG

Im Anschluss haben die Gäste des Industriekulturabends die Chance, einen authentischen Bericht über die Zeit des Industriestandortes während der DDR und der Zeit vor, während und nach der Wende zu erhalten. Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende des Werkes Hennigsdorf Karl-Heinz Graffenberger referiert zur „Transformation der Großindustrie – am Beispiel des Überganges von LEW zu AEG“ und beginnt dabei in den 1970er Jahren, als er mit dem Betriebsratsvorsitz die Vertretung der Belegschaft übernommen hatte.

Karl-Heinz Graffenberger

Karl-Heinz Graffenberger (Foto: BBWEA)

Graffenberger gewährt Einblick in das “Kombinat VEB Lokomotivbau Elektromaschinenwerke “Hans Beimler” (LEW, die als volkseigener Betrieb verschiedene Unternehmensbereiche auszugegliederte. Es entsteht ein Kombinat aus acht bis neun Einzelbetrieben, die jeweils auf verschiedenen Gebieten spezialisiert sind. Der Schienenfahrzeugbau, der schlüsselfertige Bahnen produziert, ist als „Fahrzeug-komplett-Anbieter“ zweigleisig organisiert: Waggonmaterial und Lokomotiven. Neben dem Bau von Schienenfahrzeugen werden Isolierstoffe, Elektrogüter, Konsumgüter und Zahnräder gefertigt. Der Schienenfahrzeughersteller am Standort Hennigsdorf hat 8.000 Mitarbeiter, die am gleichen Standort gelegene Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf AG 9.000. Graffenberger verweist auf die enormen Ströme von Personen, die durch die Straßen Hennigsdorfs morgens zur Arbeit und abends auf dem Heimweg anzutreffen sind.750 Azubis für bis zu 120 Berufe werden bis zur Wendezeit bei LEW ausgebildet. Die Betriebsstruktur ist für die Mitarbeiter so angelegt, dass alle vor und nachgelagerten Prozesse eingebunden sind. Es gibt eine eigene Kantine, Poliklinik, Kita, Sportstätten und Werkswohnungen auf etwa einer Million Quadratmeter.

Wie geht es weiter während die Wende vollzogen wird, welche Prozesse sind zu beobachten? Die AEG hilft den im Kombinat LEW ausgegliederten Bereiche durch Aufträge und gewährt die erforderliche Zeit, damit sie sich in einem allmählichen Lernprozess in die Marktbedingungen ihres konkreten Marktes sinnvoll einarbeiten konnten. Zur Transformation des Kernbereichs gehören der Abbau von Hierarchien und die Anpassungen im Mitarbeiterbereich. Eingeleitet wurden diese Maßnahmen bereits 1987 als die ersten Verhandlungen zur Zusammenarbeit stattfinden.

Lok

(Foto: Strunk)

Graffenberger weist daraufhin, dass was während der Transformation natürlich auch Spannungen gibt, die durch das Aufeinandertreffen verschiedener Kollegen aus dem ehemaligen Westen mit den langgedienten Mitarbeitern der LEW entstehen. Das soziale Gefüge ändert sich, die Philosophie wird eine andere. Doch die Mitarbeiter sind guter Hoffnung, bieten flexible Leistungen und sorgten dafür, dass das Werk weiterhin gut aufgestellt ist. Anfragen werden abgearbeitet und die ersten Bahnen werden probeweise an die Bundesbahn abgegeben – mit positiven Reaktionen. Allerdings geht die Mitarbeiterzahl schnell und deutlich zurück. Mitte der 90er Jahre ist sie von 8.000 auf 3.200 geschrumpft. Doch der Abbau von Hierarchien und Mitarbeitern hat sich im Transformationsprozess als notwendig erwiesen, um sich den verändernden Marktbedingungen anzupassen und eine funktionierende Organisationform zu finden. Positiv ausgewirkt haben sich dabei, die gute fachliche Qualifikation des Management, die gute Qualifikation des ingenieurtechnischen Personals, die gut ausgebildeten und erfahrenen Facharbeiter, die durch die umfangreichen Exporte des VEB LEW Hennigsdorf erworbenen Erfahrungen und die ausgeprägte Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter.

Nach mehreren Firmenfusionen und Umstrukturierungen des Unternehmens ab 1996 gehört das Werk ab 2001 – mit deutlich verminderter Belegschaft – zum Konzern Bombardier Transportation.

 

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