Wirtschaftsgeschichte
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Handel und Gewerbe im Lützow-Viertel (3): Eisenbahn-Waggonbauer Jungbluth

Unter der Rubrik “Handel und Gewerbe im Lützow-Viertel” stellt Prof. Dr. Paul Enck heute den Eisenbahn-Waggonbauer Jungbluth vor. Die Langversion der Geschichte können Sie im Kiez-Blog mittendran – Nachrichten für Tiergarten-Süd lesen.

Abb. 1: Heinrich Jungbluth um 1865

Als der Schmied und Tierarzt Günther Heinrich Jungbluth im Jahr 1840 über den Landwehrkanal in das Schöneberger Feld zog, war er schon das, was man einen “gemachten Mann” nennt: Er war am 10. November 1808 in Buhla bei Nordhausen (Südharz) als 9. und letztes Kind eines Bauernehepaares geboren worden, kam mit 12 Jahren (1820) zu seinem Onkel Johann Friedrich Einicke und dessen Frau nach Berlin, wurde von ihm zum Schmied ausgebildet, besuchte ab 1826 die Tierarzneischule und absolvierte die Prüfung zum Tierarzt am 13. September 1830. Danach praktizierte er als Schmied und Pferdearzt bis etwa 1841 im stiefelterlichen Haus in der Dorotheenstraße 22. Er heiratete am 12. Januar 1834 eine entfernte Cousine seines Stiefvaters aus Egeln bei Magdeburg; das Paar hatte in den nachfolgenden Jahren 10 Kinder, von denen 9 das Erwachsenenalter erreichten.

Auch sein Stiefvater hatte diese nicht ungewöhnliche Berufskombination, Schmied und Rossarzt. Er übergab seinem Ziehsohn Haus und Werkstatt in der Dorotheenstraße und zog laut Adressbuch 1839 über den Landwehrkanal, um sich auf einem beträchtlichen Stück Land an der Potsdamer Chaussee 40a zur Ruhe zu setzen. Nach Umbenennung der Chaussee in Potsdamer Straße im Jahr 1841 bekam es die Hausnummer 30, wo die Einickes Land ausweislich der Katasterbücher von Alt-Schöneberg von den Bauerngütern des Baron von Lowtzow und den Bauerngütern Willmann und Richnow abgezweigt und in Erbpacht übernommen hatten (1).

Der Tierarzt und Schmied Wilhelm Jungbluth genannt Einicke findet sich ab 1837 in der Dorotheenstraße, und nach 1847 (seine Ziehmutter starb ein Jahr später) ist er Besitzer einer Eisenbahnwaggonfabrik in der Potsdamer Straße 30 bzw. “am Canal nahe der Landsbergerstraße”, wobei dies ein Irrtum vom Amte ist: gemeint war wohl der Landwehrgraben. Diese Adresse variierte in den nächsten Jahren, weil offenbar die Straßenbezeichnungen nicht festgelegt war und das Grundstück mehrere Zugänge hatte. 1848: Fabriklokal: Potsdamerstr. 30, auch Lützowerwegstr. 40E; 1849 und 1850: Eingang am Landwehrgraben; 1851-1856: Schöneberger Ufer, nahe der von der Heydt Brücke – es handelt sich immer um die gleichen Adressen: Adresse und Zugang über die Potsdamer Straße 30, Fabrikgebäude hinter dem Elisabeth-Krankenhaus, bis etwa da, wo einige Jahre später die Magdeburger Straße (heute: Kluckstraße) entstand.

Abb. 2: Situationsplan Potsdamer Str. 30 und Hinterland mit der Eisenbahn-Waggonfabrik Jungbluth um 1855.

Die Waggonfabrik

Die Eisenbahnwaggonfabrik des Wilhelm Jungbluth nahm fast die gesamte Länge der heutigen Kluckstraße vom Schöneberger Ufer bis zur Lützowstraße ein. Wilhelm Jungbluth produzierte hier zwischen 1846 und 1856 Eisenbahnwaggons für die gerade erst (1838) entstehende Eisenbahn, die erste in Preußen von Berlin nach Potsdam, die 1846 weiter nach Magdeburg verlängert wurde.

Der Beginn des Eisenbahnzeitalters begünstigte bei einer Reihe von bisherigen Handwerksbetrieben die schnelle Weiterentwicklung zu industrieller Produktion, und Schmiede machten den Anfang, z.B. Borsig, der zunächst Schrauben für die Befestigung der Schienen an den Holzschwellen lieferte, aber nach einiger Zeit die Lokomotiven selbst baute. Waggons insbesondere für den Personentransport ähnelten anfangs sehr stark den Kutschen, was in der Anfangsphase des Eisenbahnverkehrs Schmiedebetriebe offenbar veranlasste, in den Waggonbau einzusteigen. Dazu gehörte auch der Betrieb von Jungbluth, wenngleich es nicht der größte Betrieb war, sondern auf dem vorletzten Platz unter 20 Firmen rangierte (2). Jungbluth beschäftigte 1846 insgesamt 83 Mitarbeiter, und hatte bis dahin 2 Personenwaggons und 30 Güterwaggons gefertigt. Außerdem hatte er mehrere Patente angemeldet: Über ein feuerfestes und wasserdichtes Wachstuch, das in Kälte und Hitze biegsam blieb, und über eine Wagenachse, die das Risiko des Entgleisens und des Achsenbruches verhindern soll; letzteres auch in Österreich.

Ausweislich der Bauakte (3) baute Jungbluth das weitläufige Gelände nach und nach zu etwa aus, was man heute einen Gewerbehof nennen würde, mit Gebäuden für verschiedene Betriebe (Tischlerei, Schlosserei, Lackiererei, Stellmacher = Hersteller von Wagenrädern aus Holz u.a.m.), die zum Teil untervermietet waren (s. Bild 2). Diese Anlage ging Pfingsten 1862 in Flammen auf.

Jungbluth bekam aus der Versicherung 50.000 Taler als Entschädigung, schätzte die Berliner Börsenzeitung (4) und hatte zudem ein fast “geräumtes” Grundstück von 1266 Quadrat-Ruten (QR) zur Verfügung, das in dieser Lage und zu diesem Zeitpunkt einen Bodenwert von bestimmt 90 Taler je QR (5) hatte, also mehr als 125.000 Taler wert war: Diese insgesamt 175.000 oder mehr Taler hatten eine Kaufkraft von mehr als 2.500.000 € heute (6), mehr als genug für den nur 53 Jahre alten Günther Heinrich Jungbluth, sich zur Ruhe zu setzen – er verkaufte einen Großteil des Grundstücks an den Bankier Johann Carl Blume (1819-1875), der dort Häuser baute (oder bauen ließ) und eine Privatstraße anlegte, die nach ihm “Blumeshof” genannt wurde. Das Grundstück mit dem Zugang Potsdamer Straße 30 wurde 1861 neu bebaut. Jungbluth behielt allerdings ein Tortenstück zurück, Blumeshof 15 direkt am Landwehrkanal, und baute dort ab 1863 selbst – dieses Haus wird 75 Jahre später traurige Berühmtheit erlangen als “Judenhaus”, nach mehrmaligen Umbauten.

Was machen mit dem vielen Geld?

Abb. 3: Anzeige der Firma Puritas von 1862.

Im Rahmen des Waggonbaus hatte Jungbluth zwei Patente angemeldet; unklar ist, ob und wie viele Lizenzeinnahmen er dadurch erzielt hat. Aber auch nach dem Ende seiner Firma 1862 blieb Jungbluth ein Unternehmer, der nach neuen Möglichkeiten suchte. Ein Teil seines Vermögens investierte er in die – am Ende vergebliche – Suche nach ertragreichen Grundstücken für den Braunkohletagebau im Kreis Beeskow-Storkow (heute: Landkreis Oder-Spree), einen anderen Teil in eine Firma namens “Puritas” (Bild 3), die sich anheischig machte, die Entsorgung von Fäkalien und anderen Abfällen aus der Industrie für ganz Berlin zu organisieren – das war zwar durchaus zeitgemäß, wurde aber etwa zur gleichen Zeit von der Stadt selbst betrieben und schließlich ab 1871 in Form des Radialsystems für Berlin (Kanalisation und Abwasserentsorgung) umgesetzt.

Abb. 4: Heiratseintrag im Kirchenbuch von Werningerode 1878 (oben) und Sterbeeintrag vom 31. März 1882 im gleichen Kirchenbuch.

Jungbluth und ein Teil seiner Kinder wohnte noch bis 1875 am Blumeshof 15, dann verschwand er aus dem Adressbuch von Berlin und blieb für fast ein Jahr – für uns – verschwunden. Wir fanden ihn wieder nach einem Jahr des Suchens in Werningerode (Südharz, nicht zu verwechseln mit Wernigerode im Harz!), nur 10 km von seinem Geburtsort Buhla entfernt, wo er am 31. März 1882 verstarb. Er hatte offenbar nach dem Tod seiner Frau (1873) erneut am 9. Juni 1878 geheiratet (Bild 4), die 26-jährige Tochter eines Werningeroder Gastwirtes, Dorothea Johanna Küchenthal (1852-1918), die den Gasthof “Zum König von Preußen” ihres Vaters geerbt hatte – diesen Gasthof gibt es nahezu unverändert noch heute unter dem Namen “Zur Linde” und ist weiterhin im Besitz der Familie Küchenthal. Damit war diese Suche am Ende doch erfolgreich: Ein fehlendes Todesdatum macht aus einer Geschichte leicht ein Märchen, denn “wenn sie nicht gestorben sind ….”.

Text: Prof. Dr. Paul Enck

Literatur

  1. Wilhelm Feige: Rings um die Dorfaue. Ein Beitrag zur Geschichte Schönebergs. Verlag Theodor Weicher, Berlin 1937, Seite 129
  2. von Weise: Mittheilungen über den Eisenbahn-Wagenbau in Deutschland und auswärts, vergleichend. Einrichtungen und Leistungen der bedeutendsten deutschen Anstalten für Eisenbahn-Wagenbau. Zeitschrift des Vereins für Deutsche Statistik 1 (1847), Seite 916-924.
  3. Bauakte im Landesarchiv Berlin: B Rep. 202 Nr. 2958 (Band 1).
  4. Berliner Börsenzeitung vom 10. Juni 1862.
  5. Hartwig Schmidt. Das Tiergartenviertel. Baugeschichte eines Berliner Villenviertels. Teil I:1790-1870. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1981
  6. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. Kaufkraftvergleiche historischer Geldbeträge. Drucksache WD 4 – 3000 – 096/16 (2016) enthält eine Tabelle der Deutschen Bundesbank vom 19.1.2016 mit Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark.

Abbildungen

  1. Foto des Heinrich Jungbluth um 1865. Quelle: Festschrift zum 50jährigen Dienstjubiläum für Ernst Friedrich Gurlt (1818-1868), Direktor der Tierärztlichen Hochschule Berlin. Darin sind etwa 800 Porträt-Fotos aller seiner nicht-militärischen Studenten. Von der Veterinärmedizinischen Bibliothek der Humboldt-Universität Berlin freundlicherweise zur Verfügung gestellte Kopie.
  2. Situationsplan Potsdamer Str. 30 und Hinterland mit der Eisenbahn-Waggonfabrik Jungbluth um 1855. Quelle: Bauakte (3).
  3. Anzeige der Firma Puritas in der Deutschen Gemeindezeitung von 1862.
  4. Heiratseintrag im Kirchenbuch von Werningerode 1878 (oben) und Sterbeeintrag vom 31. März 1882 im gleichen Kirchenbuch.

 

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