Wirtschaftsgeschichte
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Motard, nicht Motorrad – die Scheidemandel-Motard-Werke AG

In den 1950er Jahren stellten die Chemie-Nachrichten fest: „Wachsender Wohlstand breiter Bevölkerungskreise, verbunden mit dem ausgeprägten Trend, behaglich zu wohnen, hat dem Kerzengeschäft kräftigen Auftrieb gegeben. […] Die festlich-anheimelnde Atmosphäre des Kerzenlichts möchten in unserer hastigen und betriebsamen Zeit immer weniger Menschen missen. Der Aufschwung des Kerzenabsatzes hat sich auch in diesem Jahr unverändert fortgesetzt.“

Prospekt zu Perlenleim (BBWA – S 9/360)

Auch wenn die Scheidemandel-Motard-Werke AG heute nur noch den wenigsten ein Begriff sein dürfte, so handelte es sich doch um den ältesten deutschen Stearinkerzenhersteller. Was eingedenk des Namensteils „Motard“ wenig verwundert. Bereits 1957 wies Der Kurier auf die verhältnismäßig kurze Geschichte der Kerze hin: 1831 hatte L. C. Adolphe Motard in Paris die erste Stearinkerzenfabrik überhaupt gegründet. Später verlagerte er seinen Wohnsitz nach Berlin, wo er die Firma A. Motard & Co. als erste deutsche Stearinkerzenfabrik gründete.

1937 wurde das Unternehmen von der Aktiengesellschaft für chemische Produkte vormals H. Scheidemandel übernommen. Im Zuge dessen kam es zur Namensänderung bzw. -zusammenführung: Scheidemandel-Motard-Werke AG.

Prospekt zu Perlenleim (BBWA – S 9/360)

Die Aktiengesellschaft für chemische Produkte vormals H. Scheidemandel wurde 1895 in Landshut gegründet, doch bereits 1904 verlegte man den Sitz der Unternehmung nach Berlin. So trug man einem verstärkten Fokus auf Norddeutschland Rechnung.

Die Scheidemandel-Motard-Werke AG betätigte sich laut Handelsregister in folgenden Geschäftszweigen: „Herstellung, Verarbeitung und Vertrieb von chemischen Erzeugnissen alle Art, von Fetten und Fettsäuren, Glyzerin, Kerzen, Gelatine, Leimen und Klebern, Dünge- und Futtermitteln.“

Bemerkenswerterweise gelang es nach dem Zweiten Weltkrieg, das gesamte frühere Herstellungsprogramm wieder aufzunehmen. Dabei hatte das Unternehmen mit beträchtlichen Kriegsschäden und -folgen fertigzuwerden: ein vollständig zerstörtes und enteignetes Berliner Bürohaus, Enteignungen der Werke Tangermünde a. E., Strehla a. E. und Berlin-Lichtenberg. Außerdem Verlust der Beteiligungen an der W. Cuypers & Stalling GmbH (Dresden) und des Werkes Dammkrug bei Königsberg. Übrig blieben sechs Werke, davon eines in Berlin.

1967 erzielte das Unternehmen die Hälfte seines Umsatzes mit Leimprodukten und Fetterzeugnissen. Im Fettsektor erlangten einzelne Produkte Marktanteile zwischen 25 und 50 %. Allerdings erhöhten Niedrigpreisländer (v. a. Polen und Japan) den Druck am Markt spürbar – insbesondere im Kerzengeschäft.

Immer wieder gab der Name der Firma Anlass für Missverständnisse. So schrieb die IHK Berlin 1952 beispielsweise von „Scheidemantel“ – kein Einzelfall. Noch problematischer jedoch gestaltete sich der Namensbestandteil „Motard“. Schließlich stellte die Unternehmensführung 1970 einen Antrag auf Namensänderung beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg. Dies wurde u. a. damit begründet, dass er Name zu unpraktisch sei, da zu lang, und vor allem, dass er laufend zu Irrtümern Anlass gäbe. So verwendeten Kunden, Geschäftspartner etc. häufig den Begriff „Scheidemandel-Motorrad-Werke“. Mit Motorrädern allerdings hatte die Scheidemandel-Motard-Werke AG nie etwas zu tun gehabt. Mit Bewilligung des Antrags firmierte man fortan als Scheidemandel AG.

Briefbogen von 1978 (BBWA – K 1/1/113)

1979 erwarb die Deutsche Gelatine-Fabriken Stoess & Co. GmbH aus Ebersbach (Baden) die Mehrheit der Anteile. Ein Jahr später veranlasste diese eine Verlagerung des Firmensitzes nach Wiesbaden. Bereits zuvor hatte sich der Rückzug aus Berlin angedeutet; mit der Schließung der Westberliner Motard-Kerzenfabrik Spandau.

*Geschäftsberichte von 1948, 1968, 1973 (BBWA-S 6/795, 814, 819)

Text: S. D.

 

8 Kommentare

  1. Martin Bock sagt

    Hallo Evelyne, à l’adresse Nonnendammallee 32 – près de Motardstraße (rue Motard) vous trouvez garages, l’usine n’existe plus, peut être quelque restes. Je me rapelle bien l’odeur des fumes de l’usine à Siemensstadt (https://en.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fsiedlung_Siemensstadt) dépendant de la direction de vent ….
    Les bougies sur notre arbre noel avaient toujours bougies MOTARD!

  2. andreas scherff sagt

    Meine Großmutter war dort beschäftigt.
    Leider gibt es darüber keine weiteren Angaben und leider auch kein Personal Archiv ,schade.

  3. WEYRAUCH Klaus sagt

    Ich kenne Scheidemandel als Gelatinelieferant an die Gelatinefabrik Creutz im Odenwald.
    Die Eberbacher haben dann Scheidemandel gekauft und wollten dann Creutz nicht mehr beliefern. Leider hat das Bundeskartellamt nicht mitgespielt und Creutz musste weiter beliefert werden.

  4. Jo B. sagt

    Ich kann mich noch lebhaft an die Becken erinnern in den Knochen und Schlachtabfälle gekocht wurden. Die Düft zogen die Nonnendammalle entlang. Es war unangenehm bzw zum Wügen 🙂

  5. Guder sagt

    Chère Evelyine,
    je viens d’acheter un très joli paquet de bougies Motard (un peu comme celles-ci : https://www.ebay.de/itm/123574763175) au marché aux puces dans une commune proche de Berlin – et je me suis mise à la recherche de cette entreprise pour savoir de quelle période datent les bougies. L’adresse indiquée sur le paquet est: A Motard & Co, Nonnendammallee 32, Berlin Spandau. Peut-être cela vous est utile?
    Bien à vous, Ute

  6. Descamps sagt

    Article intéressant dont j’ai lu la traduction en français car je maîtrise mal l’allemand. Je suis l’arrière-petite fille de Charles Eugène Motard qui a développé cette entreprise de bougies à la stéarine. C’est son père, Louis Claude Adolphe Motard qui avait créé l’usine à Berlin. Le nom Motard est un très vieux nom français, sans rapport bien sûr avec la moto qui est un engin assez récent !
    Quelqu’un aurait-il une photo de cette usine ? son adresse précise ? je vais me rendre à Berlin et je voudrai retrouver l’emplacement.
    Viele danke .
    Evelyne Descamps

    • GIRAUD sagt

      Bonjour Evelyne, j’habite à Tours et je commence des recherches sur la famille Motard qui a habité une grosse maison bourgeoise de Tours nord appelée Belmont. Peut-être pourrions nous échanger quelques informations ?
      Merci.
      Anne Giraud

  7. Sehr interessanter Artikel. Wir hatten früher häufig Kerzen der Firma zuhause, aber Ich kannte das Unternehmen bisher nur unter dem neuen Namen Scheidemandel AG und wusste nicht, was für eine bewegende Geschichte dahinter steckt.

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