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Die Volkszählung 1983 im Spiegel von Boykott-Aufklebern

Einen Meilenstein zum Schutz der Privatsphäre setzte das Verfassungsgericht im Dezember 1983 in dem Urteil über Beschwerden gegen die Volkszählung, in dem das “Recht auf informationelle Selbstbestimmung ” in den Rang eines Grundrechts erhoben wurde.

BBWA S 2/11/798

Die im Jahre 1982 gesetzlich beschlossene Volkszählung, die auf den 27. April 1983 festgesetzt war, musste abgebrochen und auf einen neuen Termin verlegt werden.

Seit den Studentenprotesten im Jahre 1968 hatte sich die linke politische Szene in verschiedenste Gruppierungen aufgesplittert. Den Volkszählungsboykott unterstützten u.a. die Alternativen (Grünen) und Anhänger linker Parteien bis hin zur DKP, aber auch Hausbesetzer und die Mieterbewegung. Als Moderatoren traten Kirchgemeinden hinzu. Sie artikulierten ihr Misstrauen gegenüber dem Staat und stellten eine Verbindung zwischen NS-Staat, Notstandsgesetzen und der Rasterfahndung gegen die RAF her. Dazu rechneten sie die totalitäre Ãœberwachung der kommunistisch regierten Länder, die George Orwell in seinem utopischen Roman “1984” (Big Brother) vorhergesagt hatte.

Big Brothers erster Auftritt

Verdatung
Oder
Lückenlose
Kontrolle –
System
Zur
Absicherung
Erreichter
Herrschaftsstrukturen
Liefert
Unübertreffliche
Nutzbringende
Gesellschaftsdaten

– so der mnemotechnische Versuch einer Unterstützung des Boykottaufrufs zum Zähltag (S 11/732).

Die Datenverarbeitungstechniken entwickelten sich seit den 1970er Jahren in bisher unbekannter Geschwindigkeit. Die Datenschutzgesetze vom Ende der 1970er Jahre hinkten hinter den jeweiligen technischen Möglichkeiten hinterher. Ihre Notwendigkeit wurde nur von wenigen erkannt. Erst in Verbindung mit der Volkszählung ergab sich eine explosive Mischung des Misstrauens und der Ablehnung, deren Facetten auf den hier abgebildeten Aufklebern und Stickern zum bildlichen Ausdruck kam.

Als ikonographische Symbole tauchen auf: Bar-Code (S 11/644, 655, 794), Lochstreifen (alte Datenverarbeitungstechnik, S 11/665), Fingerabdruck (S 11/658), Schlapphüte (der Geheimdienste, S 11/692, 791), das (Überwachungs-)Auge (S 11/700), das Hologramm (S 11/673). Das sprichwörtliche Kalb/Lamm (S 11/655), das seine Schlächter selbst wählt, stammte aus der Wahlkampfrhetorik der Weimarer Zeit.

Die Scharte des Abbruchs der Zählung ist bei der Wiederholung im Jahre 1987 nicht ausgewetzt worden. Seitdem gehört “Volkszählung” zum Tabu-Wort. Es ist durch das neutralere “Zensus” ersetzt worden, das aber seinen Ursprung in der Festsetzung der Steuerbemessung nicht verleugnen kann. Für alle, die zunehmend in der Preisgabe ihrer persönlichen Daten ein Problem sehen, bildet der Meilenstein des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung einen Orientierungsrahmen und einen Hoffnungsschimmer.

Ephemera

Die abgebildeten Aufkleber gehören zur Sammlung S11 Aufkleber im BBWA. Sie umfasst rund 23000 Aufkleber aus der Zeit zwischen (1920)1975-2013. Dieses Medium gehört zu den kurzlebigen Ephemera, die in einem aktuellen Zusammenhang entstehen und innerhalb dessen Bedeutung tragen, die allerdings mit Abklingen des aktuellen Themas an Bedeutung verlieren. Der Wert dieser kleinen Gebrauchsmedien ergibt sich oft in späteren Interpretationszusammenhängen – wie etwa die Aufkleber zur Volkszählung 1983 dreißig Jahre später im Lichte aktueller Datenschutzdiskussionen im Sommer 2013.

Literatur

  • Ulf Mailänder und Ulrich Zander: Das kleine Westberlin-Lexikon. Berlin 2003, S. 296 f.
  • Peter Schaar: Das Ende der Privatsphäre. Der Weg in den Ãœberwachungsstaat. München 2009, S. 103 f.

Beispiele aus der Sammlung S 2/11

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