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Eine Kreuzung mit (Wirtschafts-)Geschichte: Erster Industriespaziergang

Zur Geschichte der wirtschaftlichen und industriellen Entwicklung Berlins gehören seit der Industrialisierung zentrale Begriffe wie Eisenbahnbau, industrielle Randwanderung, Bodenspekulation, Terraingesellschaften, vernetzte Rüstungswirtschaft und Wiederaufbau. Sie alle lassen sich an der Kreuzung Wittestraße Ecke Holzhauser Straße nachvollziehen, wie anlässlich des ersten Industriespaziergangs im Rahmen der „Historischen Woche Wittenau“ deutlich wurde.

BBWA-Geschäftsführer Björn Berghausen startete mit dieser Führung zur dritten Wiederauflage des beliebten lokalhistorischen Formats die vom Wirtschaftsarchiv angegangene Projektarbeit „Industriespaziergänge in Reinickendorf“. Diese Projektreihe wird vom Europäischen Sozialfonds gefördert und soll im kommenden Jahr „am Wegesrand verborgene“ industrie- und wirtschaftsgeschichtlichen Höhepunkte des Berliner Nordens entdecken und aufbereiten.

Nun also: Wittestraße. An der Kreuzung steht man genau dort, wo die idyllische Dalldorfer Heide 1892/93 mit dem Bau der Kremmener Eisenbahn  in die industrielle Moderne katapultiert wurde. Mit der verbesserten Infrastruktur zog nicht nur Borsig nach Reinickendorf, sondern auch die Bodenspekulanten Paul Hutzel und Friedrich la Barrée, die dem Dalldorfer Gemeindevorsteher Peter Witte das Recht zur Parzellierung der Grundstücke entlang der Eisenbahnlinie abschwatzten und fortan Grundstücke verscherbelten. Mit der ersten hier niedergelassenen Fabrik, der Eisenwarenfabrik Sattelberg 1893, war für die Dalldorfer Heide der Pfad vorgegeben: Wo eine Fabrik steht, siedeln sich weitere an. Im Norden 1898 Borsig, im Süden 1905 Carl Flohr, besser bekannt als der Fahrstuhlhersteller Flohr-Otis, sowie lokale Mittelständler wie Zimmermann & Buchloh oder Belter & Schneevogel sowie die bedeutenden Unternehmen Raboma und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken.

Gasbehälter der Gasanstalt Tegel, recht Regulierungshaus.

Gasbehälter der Gasanstalt Tegel, rechts Regulierungshaus.

An der Kreuzung stand aber seit 1903 auch die Berliner Gasanstalt Tegel mit den beiden riesigen Gasbehältern, im Norden entstanden die Arbeiterwohnungen des späteren Borsigwalde. Auf der anderen Ecke standen die Barracken der Fremd- und Zwangsarbeiter, die bei Raboma und den kleineren Betrieben während des Zweiten Weltkriegs Rüstungsaufträge umsetzen mussten. Und an der vierten Ecke steht als Vertreter des Wiederaufbaus das Unternehmen Sizilia, dessen gelben, zitronenförmigen Plastikflaschen in vielen Haushalten Deutschlands nach dem Krieg zum unentbehrlichen Küchenhelfer wurden.

Die Strecke des Spaziergangs führte die Wittestraße am Russischen Friedhof entlang bis zur Flohr- und zur Otisstraße, wo noch heute die Hallen der Stahlbau Wittenau stehen, die als Tochtergesellschaft der Mitteldeutschen Stahlwerke auch zum Flick-Konzern gehörten. Unter der Kremmener Bahn hindurch ging es zur Innungsstraße – benannt nach der Charlottenburger Schlachterinnung, die als erste ansässige Körperschaft in der Dalldorfer Heide hier Schafe weiden ließ – zurück durch die Soltauer Straße. Hier fertigte die Altmärkische Kettenwerk GmbH (Alkett) im Zweiten Weltkrieg Panzer für die Wehrmacht.

Im Laufe des Jahres werden Teilnehmer des Projektes „Industriespaziergänge in Reinickendorf“ sechs weitere Strecken ausarbeiten und für die heimatkundliche, touristische und industriekulturelle Nutzung bereitstellen.

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